Ausgrabung: Tiebensee

Marschensiedlungen der römischen Kaiserzeit in der Dithmarscher Nordermarsch

Zahlreiche Urnengräberfelder belegen in Dithmarschen eine Bevölkerungsvermehrung seit der jüngeren vorrömischen Eisenzeit. Zwar bricht deren Belegung zumeist seit dem 3./2. Jahrhundert v. Chr. ab, doch erfolgte bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. die Anlage neuer Bestattungsareale und Siedlungen. Letztere entstanden, wie Hemmingstedt, bevorzugt am Geestrand oder auf Nehrungen wie bei Lunden oder dem Elpersbütteler Donn und bezogen als Weideland einen schmalen Marschstreifen mit ein. Seit dem frühen 1. Jahrhundert n. Chr. setzte dann eine Landnahme der nun größeren Seemarsch ein. Dort standen im Unterschied zur dicht bewaldeten Geest günstige Wirtschaftsflächen für eine Viehhaltung betreibende Bevökerung zur Verfügung.

In den Zeiten, wo die Seemarschen noch dem natürlichen Wechselspiel stürmischerer und ruhigerer Perioden ausgesetzt waren, spielte deren Höhe eine wichtige Rolle für deren Besiedlung und Nutzung. Dabei ist die Pflanzengesellschaft der unbedeichten Salzwiesen abhängig von der Überflutungshäufigkeit und vom Salzgehalt des Bodens. Am tiefsten liegt – noch im Bereich der täglichen Tide – der Quellerasen (Salicornitum strictae). Nach oben schließt sich die Andelwiese (Puccinellietum maritimi) an, eine gute, aber noch regelmäßig überflutete Viehweide. Darüber folgt die nur im Winter überflutete Salzbinnenwiese (Juncetum gerardii). Auf deren höchsten Flächen der Salzbinnenwiese war für die frühen Siedler der sommerliche Anbau von Kulturpflanzen und die Heugewinnung möglich, während die tieferen Flächen eine gute Viehweide bildeten. Die an den höch­sten Stellen der Marsch wachsenden Röhrichte dien­ten der Schilfgewinnung für Fut­ter-, Streu- und Bedach­ungszwecke.

Ein im Vergleich zu heute niedriger Meeres- und Sturmflutspiegel begün­stigte dabei in der Dith­marscher Nordermarsch ebenso wie in anderen Regionen der festländi­schen Nordseemarschen um Christi Geburt die An­lage von Flach­sied­lungen auf höher aufgelandeten Marsch­rücken oder Uferwällen. Schwerpunkte der Besied­lung in Schleswig-Holstein bildeten neben den Elbmarschen vor allem die Seemar­schen Dith­marsch­ens und des südlichen Eiderstedt, da sich in weiten Flächen des heutigen nordfriesischen Wattenmeeres Moore und Schilfsümpfe ausdehnten. Elbe und Eider bildeten dabei maritime Verkehrswege. Auch deshalb blieb die auf einem hohen Uferwall an einem alten bogenförmigen Eiderverlauf gelegene, von Albert Bantelmann ausgegrabene Warft Tofting vom 1./2. bis zum 5. Jahrhundert bewohnt. Deren Hofplätze waren kontinuierlich mit Mist und Klei erhöht worden. Auf dem südlichen Ufer der später versandeten Eiderschleife liegen in Dithmarschen die Wurten Flehderwurth und Hemmerwurth. Zumindest letztere dürfte wohl bis in die römische Kaiserzeit zurückreichen, da im Umland entsprechend alte Funde belegt sind.

So prägen zwischen der Eidermündung und der Meldorfer Bucht nach Ausweis von Sammelfunden, Bohrungen und Ausgrabungen in Wennemannswisch, Tiebensee und Haferwisch zwei, in einem Abstand von etwa 2 km annä­hernd parallel in nord-südlicher Richtung von der Eidermündung im Norden bis zur Mel­dor­fer Bucht im Süden orientierte Reihen klei­ner bis mit­tel­großer Wurten das Siedlungs­bild des 1. bis 4. Jahrhun­derts. Die östlichere der beiden Reihen erstreckt sich parallel des Heider Geestrandes zwischen Tiebensee im Norden und Wennemannswisch im Süden auf einem sandigen Marschrücken. In Wennemannswisch erschlossen zwei kleine, 1947 von Albert Bantelmann durchgeführte Schnittgrabungen an ihren Rändern zwei auf dem hier angeblich bis NN +1,89 m hohen Uferwall angelegte, aus Kleisoden aufgeschüttete etwa 1 m hohe Hofwurten. Der Raum zwischen beiden Wurten wurde später mit Mist und Siedlungsmaterial verfüllt. Die Masse der  Keramik gehört der älteren römi­schen Kaise­rzeit an, daneben wurden aber auch Scherben der jüngeren römischen Kaiser­zeit aus den oberen Schichten geborgen. Wie 1993 durchgeführte Bohrungen auf der etwas westlich gelegenen sog. Mühlenwurt zeigen, bestand hier nach Ausweis von Brand-, Mist- und Siedlungsschichten an deren Basis vermutlich eine Flachsiedlung der älteren römischen Kaiserzeit, die hier auf der NN +1,20 m hohen Marschoberfläche angelegt worden war. Warum man hier zur ebenen Erde in der Marsch siedeln konnte, während auf dem hohen Uferwall eine Wurt entstand ist unklar, vielleicht war auch die seinerzeitige Höhenvermessung nicht korrekt. Einen besseren Einblick erlauben die Untersuchungen in Tiebensee.

Archäologische Befunde von Tiebensee

In Tieben­see liegt eine größere, bis NN +3 m hohe Wurt, die 1991 nach Bohrungen für eine Ausgrabung ausge­wählt wurde, da die weiter südlich im Pflughori­zont liegen­den Fundplätze der römischen Kaiserzeit keine guten Erhaltungsbe­dingungen verspra­chen. Die beiden Grabungsschnitte legten teilweise eine Siedlung der älteren römischen Kaiserzeit frei, deren Umwelt überwiegend vom Süßwasser beeinflusste Pflanzenarten prägten. Zwar ließen sich keine Kultur­pflan­zen­reste nachweisen, doch deuten Unkräuter auf Ackerbau auf dem höheren Marschrücken hin, während die niedere Salzmarsch des Umlandes als Weide diente. 

Im frühen 1. Jahrhundert n. Chr. lagen hier mehrere Wohnstallhäuser auf flachen, etwa 0,60 m hohen Sodenpodesten auf einem Uferwall aus sandigen Sedimenten. Der tiefere Untergrund ab NN -1 m bestand aus einem grauen, schluf­figen Wattsand mit Schilllagen. Die Ober­fläche der alten Marsch lag unter dem Kern der heuti­gen Wurt bei NN +1,30 m und fiel nach Westen auf NN +1 m ab. Da die Marsch des Um­landes nicht höher lag als unter der Wurt, kamen in jün­gerer Zeit kaum noch Sedi­mente im Umkreis der Sied­lung zur Ablagerung. In einer Ent­fernung von etwa 100 bis 130 m westlich der Wurt deuteten feinsandige Schluffe und tonige Sedimente auf einen später zusedimentierten Priel hin.

Das auf dem, von einem Graben umgebenen Hof­platz I freige­legte etwa 20 m lange und 5 m breite Haus gehört zu den typi­schen drei­schif­figen Wohnstallhäusern, bei denen Mensch und Vieh unter einem Dach unter­gebracht waren. Zwischen Wohn- und Stallteil befanden sich an den beiden Längswanden Türen. Charakteristisch für diesen Haustyp sind ferner zwei Reihen paar­weise sich gegenüberstehender, eingegrabener Pfo­sten, die das Hausinne­re in ein Mit­tel- und zwei Seiten­schiffe teilen. Innerhalb der Wandpfosten verlief die mit Klei bestrichene Flechtwand des Wohnstallhauses, dessen Walmdach einst Reet bedeckte. Die gegen Nässe empfindliche Wand schützte nicht nur der Dachüberstand des Hauses sondern in Tiebensee auch ein angeworfener Sodenwall. In dem im Westen liegenden Stall mit seiner Kleidiele ließen sich etwa 20 bis 24 Großtiere gegenüber in Viehboxen aufstallen. Im Osten des Hauses lag ehemals auf einem Höhenniveau von NN +1,50 m die Feuerstelle zwischen dem Vierpfosteninnenpaar des Wohnbereichs, den eine Flechtwand vom Stall trennte. Nahe der Haustür war in einer Grube ein bauchiger, engmündiger Topf mit Fettresten deponiert.

Nach dem Abbrand und der Planierung des Wohnstallhauses wurde darüber ein etwas breiterer Nachfolgebau errichtet, dessen Kleisodenfußboden sich etwa bei NN +2 m befand. Nach dessen Abbrand entstand nach Ausweis zweier Pfostengruben darüber vielleicht noch ein weiter nach Osten verschobenes Gebäude. Spätestens in dieser Siedlungsphase war der Raum zwischen den Hofplätzen mit Mist, Schutt und Klei soweit aufgefüllt worden. Zu dieser Phase gehörten ein bis in die Grundwasser führenden Schichten reichender Sodenbrunnen mit einer Flechtwandröhre im unteren Bereich sowie zwei dicht beieinanderstehende Öfen eines Werkgeländes anstelle des ehemaligen Hofplatzes I. Diese bestanden aus einem Feuerraum mit darüber liegender Lochplatte und ehemals wohl kalottenförmiger, abnehmbarer Tonkuppel. Deren Reste einschließlich einer Lochplatte, rotgeglühte Keramik sowie der Fehlbrand eines Webgewichtes belegen hier für den Eigenbedarf hergestellte Töpfe. Möglicherweise verließen die Bewohner ihre Hofplätze spätestens Ende des 2. Jahrhunderts, da eine zuneh­men­de Vernässung des Sietlan­des ihre Wirtschaftsflä­chen einengte, auf denen sich später Moore ausdehnten.

Eine Neubesiedlung der Wurt erfolgte erst im Spätmittelalter. Aus dieser Zeit belegt ein Kreisgraben die Existenz eines ehemaligen Rutenbargs oder Diemens.

 

Wirtschaft und archäologische Funde

In Tiebensee kamen fast 7.000 keramische Reste zum Vorschein. Die Masse der Siedlungskeramik der Keramik gehört in das 1./2. Jahrhundert n. Chr. und besteht aus grob gearbeiteten Gefäßen sowie einer feinpolierten Tonware. Die grobe Gebrauchskeramik ist meist unverziert. Die Gebrauchstonware in Tiebensee besteht vor allem aus Töpfen mit verdickten, meist abgerundeten Rändern mit enger und weiter Mündung. Die weitmündigen Töpfe weisen einen bauchigen, leicht konischen oder steilwandigen Profilverlauf auf. Charakteristisch sind vor allem verdickt facettierte oder verdickte Ränder. Von dieser Gruppe unterscheiden sich die engmündigen Töpfe mit bauchigem, konischem oder steilwandigem Profilverlauf, die meist verdickte kurze Ränder aufweisen. Wie die Auswertung der Tonware ergab, bestanden die Flachsiedlungen und leicht erhöhten Wohnplätze nur für einen Zeitraum von etwa zwei Jahrhunderten und wurden am Ende des 2. Jahrhunderts verlassen. Ferner sind das Bruch­stück eines Mahlsteins und eines Glätts­teins zu erwäh­nen. 

Zu den erwähnenswerten Funden gehören ferner zwei Fibeln als Gewandschließen (Rollenkappenfibeln Typ Almgren 1923, Gruppe II, Stufe B 1). Diese datieren in die erste Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. und haben vor allem Entsprechungen im Unterelbegebiet. Ferner belegen in Tiebensee Spinnwirtel und Webgewichte eine Textilverarbeitung im Hausbereich. Die Wirtschaft beruhte auf Viehhaltung von Rindern und Schafen. Ackerbau konnte nur während der Sommermonate auf dem Uferwall betrieben werden. 

Neben den Fibeln bildeten auch Perlen Be­stand­teile der Tracht. Halbfabrikate von Bern­steinper­len und fertige sowie unbe­arbei­te­te Stücke lassen vermuten, dass am Strand an­ge­spülter Bern­stein gesammelt und zu Schmuck verar­beitet wurde.